Traumasensibles Yoga als wirksame therapeutische Ergänzung bei Traumafolgeerkrankungen

Überblick – Traumaerfahrung und mögliche Folgen

Eine existentiell bedrohliche Erfahrung führt in dem Moment des Erlebens zu einer absoluten Notfallreaktion im Nervensystem und im Körper. Im englischen Sprachgebrauch spricht man dabei vom „Shut down“. Diese Bezeichnung bringt treffend zum Ausdruck, was im Moment einer traumatisierenden Erfahrung passiert.

Modellhaft und daher vereinfacht dargestellt, werden in einer (lebens)bedrohlichen Situation blitzschnell und unbewusst alle für das Überleben relevanten „Systeme“, wie die Amygdala und das Autonome Nervensystem (einschließlich der gesamten, damit verbundenen peripheren Stresskaskaden) maximal aktiviert, um das Überleben mittels Flucht- oder Kampf zu sichern.

Gelingt es auf diese Weise nicht, die Situation zu bewältigen und wieder in Sicherheit zu gelangen, werden unbewusst wesentliche Verarbeitungssysteme, wie der Thalamus, das Sprachzentrum, der präfrontale Kortex, die Insula und der Hippocampus abgeschaltet, um sozusagen durch den „Shut down“ das Erleben in dem Moment erträglich zu machen. Die Fähigkeit zur Dissoziation stellt sozusagen den „letzten“ möglichen Schutzmechanismus unserer menschlichen Biologie dar.

Und es sind nicht nur die typischen Typ I-Traumata, wie Naturkatastrophen, Unfälle, Gewalttaten, etc., die diese Kaskaden auslösen können. Welche Situationen von den Betroffenen als existentiell bedrohlich wahrgenommen werden, hängt immens vom Alter, von der Häufigkeit des Erlebens, von den bisherigen Lebenserfahrungen und vielen weiteren Determinanten ab.

So gibt es ein ganzes Spektrum von traumatisierenden Erfahrungen (insbesondere die Beziehungs- und Entwicklungstraumata), die zu einer schwerwiegenden psychischen Verwundung der Betroffenen führen können, mit Auswirkungen auf allen Ebenen des menschlichen Seins.

Das Auftreten ausgeprägter Symptome auf kognitiver, emotionaler und körperlicher Ebene ist zumeist die Folge. Die Kardinalsymptome sind das Wiedererleben von Trauma-Fragmenten, dissoziative Symptome (Derealisation /Depersonalisation) und die Dysregulation im Autonomen Nervensystem (Über-/ Untererregung).

Für das Erleben der Betroffenen bedeutet das, dass sie immer wieder von inneren Bildern, Alpträumen, intensiven Körperempfindungen bis hin zu Flashbacks überwältigt werden. Sie erleben sich „neben sich stehend“, „wie im Nebel taumelnd“, „abgeschnitten / taub“, „mutterseelenallein und hilflos“. Häufig erleben sie auch intensive Gefühle von Angst oder Wut. Körperlich spüren die Betroffenen zumeist eine anhaltende Anspannung und innere Unruhe, häufig einhergehend mit Beschwerden im Magen-Darm-Trakt, Schlafstörungen, Schmerzen und vielem mehr.

Das Autonome Nervensystem ANS und die Polyvagaltheorie

Das Erleben von traumatisierenden Erfahrungen hat einen immensen Einfluss auf die Funktionalität des ANS, sowohl kurz- als auch langfristig. Die Polyvagaltheorie von Stephen Porges, wissenschaftlich tätiger US-Psychiater, hat viel zu einem differenzierteren Verständnis des autonomen Nervensystems beigetragen und liefert ein sehr hilfreiches Modell für das Erleben von Übererregung und Untererregung.

Eine ausführliche Darstellung der Polyvagaltheorie würde diesen Beitrag sprengen. Bei Interesse empfehle ich die Homepage der Polyvagal-Akademie bzw. das YouTube-Video zum Polyvagalkreis von Matthias Timm (reizreduzierte Version).

Für das Verständnis von Trauma, Traumafolgeerkrankungen und die Wirkung des traumasensiblen Yoga sind folgende Aspekte zentral:

  • Das ANS ist für unser Leben / Überleben unerlässlich.
  • Im Sinne eines Radargerätes scannt es unentwegt unsere Umgebung und auch unser Inneres nach Anzeichen von Sicherheit bzw. Gefahr. Diese unbewusste Wahrnehmung wird nach Stephen Porges als Neurozeption bezeichnet.
  • Unser ANS ist eines der wichtigsten Steuerungsinstrumente in unserem Körper und reguliert auf Basis der Neurozeption unentwegt und autonom alle lebensnotwendigen Organsysteme.
  • Die Steuerung erfolgt über sympathische und parasympathische Nervenbahnen. Der meist als Parasympathikus bezeichnete N. Vagus kann den Erkenntnisses der Polyvagaltheorie in zwei funktionell und anatomisch unterschiedliche Anteilen differenziert werden: dem ventralen und dorsalen N. Vagus.

Darstellung der Grundzüge der Polyvagaltheorie anhand eines Ampelmodells:

    • Grüner Bereich – Sicherheit, Wohlbefinden, Regeneration
    • Registriert unser ANS ausreichende Anzeichen von Sicherheit fühlen wir uns ruhig und entspannt, der Organismus kann sich regenerieren. Eine umfassende Präsenz im eigenen Körper und im gegenwärtigen Moment ist möglich. In diesem Zustand ist der ventrale N. Vagus aktiviert.
    • Gelber Bereich – Aktivitäten, Anforderungen
    • Sport, Spiel sowie das Bewältigen von moderaten Anforderungen wird ermöglicht durch die (zusätzliche) Aktivierung des Sympathikus.

Bei fehlender Sicherheit bzw. dem Auftreten von Überforderungen oder Gefahren eskaliert das ANS in einen Notfallmodus (Kampf, Flucht oder Erstarren/Totstellen). Der ventrale N. Vagus wird dabei zunehmend „abgeschaltet“, was immer mit einer Reduktion der Präsenz einhergeht.

    • Oranger Bereich – Kampf, Flucht
    • Bei akut bedrohlichen Ereignissen erfolgt eine maximale Sympathikus-Aktivierung, um den gesamten Organismus in die Lage zu versetzen zu kämpfen oder zu fliehen. Bei lang anhaltenden Überforderungen bleibt eine erhöhte Sympathikus-Aktivierung über lange Zeit bestehen. Der Fokus verlagert sich auf die Herausforderung/Bedrohung auf Kosten der Präsenz.
    • Roter Bereich – Erstarren, Totstellen
    • Kommt unser ANS zu der unbewussten Einschätzung das weder Kampf noch Flucht zielführend sind, wird über den dorsalen Anteil des N. Vagus der Notfallmodus der Erstarrung/Totstellen, aktiviert. Der Verlust der Präsenz ist der Kern der Schutzfunktion der Dissoziation.

Das Erleben von anhaltender Über- bzw. Untererregung wird durch eine Dysregulation im ANS verursacht. Ein gesundes ANS schwingt situationsflexibel zwischen Regeneration und Aktivität, und findet auch nach Hochstress-Erfahrungen aus einem Notfallmodus wieder zurück in den „grünen Bereich“. In Folge von traumatisierenden Erfahrungen geht diese Schwingungsfähigkeit häufig verloren. Das ANS bleibt sozusagen in einem Notfallmodus „hängen“. Neben der damit unmittelbar verbundenen Symptomatik führt diese anhaltende Dysregulation über „Bottom-up“-Rückkoppelungseffekte (Körper -> Gehirn) zu einem Aufrechterhalten der Traumasymptomatik.

Traumasensibles Yoga TSY

Das Ziel des TSY ist es, die Dysregulation im ANS mit einer dauerhaft erhöhten Aktivität des Sympathikus und/oder des dorsalen Vagus aufzulösen und über die Aktivierung des ventralen Vagus das ANS wieder in einen Zustand des physiologischen Pendelns zwischen Entspannung und Anspannung zu bringen. TSY nutzt dazu sanfte Bewegungs-, Atem- und Spür-„Übungen“.

Im Umkehrschluss auf das Ampelmodell ergeben sich folgende drei zentrale Aspekte, die essentiell sind, um das ANS zu regulieren.

  1. Sicherheit

Die Erfahrung von Sicherheit ist unersetzlich für ein Pendeln des ANS aus einem orange-roten Zustand in einen grünen Zustand. Das Vermitteln von größtmöglicher Sicherheit geschieht im TSY auf verschiedenen Ebenen – Beziehungsgestaltung, Gruppen “regeln“, Wahlmöglichkeiten, etc.

2. Leichtigkeit

Alle Angebote sind grundsätzlich frei von Erwartungen, Zielen, Anforderungen und Anstrengung.

Alle Angebote unterstützen ein Nachlassen von Anspannung in der Muskulatur und im Atem (sanfte fließende Bewegungen, Schwingen, Schütteln, Atem “Übungen“)

3. Präsenz

Das traumasensiblen Yoga unterstützt ein „In-Kontakt-kommen“ mit sich selbst. Das Spüren einer Bewegung, einer Dehnung, einer Muskelaktivierung, eines Kontakts zum Boden, eines Atemzugs, der eigenen Hände, etc. – alles das können sehr behutsame, sichere „Brücken“ sein, um wieder in Kontakt mit sich selbst zu kommen.

Eine zudem vermittelte innere Haltung von Akzeptanz „alles darf sein“ schafft einen Erfahrungs-raum, in dem Patient:Innen mehr und mehr erleben können, dass all ihre Körperempfindungen, Emotionen, Gedanken sein dürfen, gehalten werden bzw. moduliert werden können.

Eine regelmäßige traumasensible Yoga-Praxis im Einzel- oder Gruppensetting kann die Teilnehmenden bei folgenden hilfreichen Erfahrungen unterstützen:

  • Abnahme von Unruhe und Anspannung bzw. Erfahrung von Ruhe und Entspannung
  • Vertrauen, in Kontakt mit sich selbst und den eigenen körperlichen Empfindungen zu kommen
  • Wahrnehmen der eigenen Grenzen und Bedürfnisse
  • Akzeptanz bzgl. der unmittelbaren Erfahrungen (Gefühle, Empfindungen, Gedanken)
  • Erfahrung von Selbst-Regulation
  • Zunahme der Selbst-Wirksamkeit
  • Verbesserung der Selbst-Akzeptanz, -Mitgefühls und -Fürsorge

Der US-Psychiater Bessel van der Kolk, Leiter des Trauma Center in Boston hat Traumasensibles Yoga bereits 2003 in die Behandlung von Traumafolgeerkrankungen integriert und wissenschaftlich evaluiert (Bessel van der Kolk et al., 2014, Yoga as an adjunctive therapy for PTSD, The Journal of Clinical Psychiatry 75).

Ein Zitat aus seinem aktuellen Buch „Das Trauma in dir – Wie der Körper den Schrecken festhält und wie wir heilen können“ (Ullstein-Verlag, März 2023, S. 158) verdeutlicht abschließend die Bedeutung eines körperorientierten Ansatzes in der Traumatherapie:

„Traumatisierte können erst genesen, wenn sie sich mit den Empfindungen in ihrem Körper vertraut gemacht und mit ihnen Freundschaft geschlossen haben. (…) Menschen können sich erst verändern, wenn sie ihrer Empfindungen und der Interaktion ihres Körpers mit seiner Umwelt gewahr sind. Körperliches Selbstgewahrsein ist der erste Schritt auf dem Weg zur Befreiung von der Tyrannei der Vergangenheit.“

 

Dr. med. Ellen Eckl

Dr. Ellen Eckl, ärztliche Psychotherapeutin, Yogalehrerin BDY, Trauma-Yogatherapeutin

 

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