Spürmarker, Autonomes Nervensystem und Traumasensibles Yoga

Welche Auswirkungen hat ein Trauma auf unser Autonomes Nervensystem? Wie wirken sich diese auf die verschiedensten Dimensionen unseres Seins aus? Und wie lassen sich bestimmte Zustände durch traumasensibles Yoga positiv beeinflussen?

Diesen Fragen geht der Artikel von Angela Dunemann und Sabine Nunius nach, der im August 2021 im Deutschen Yogaforum erschienen ist. Ausgangspunkt des Artikels war Angelas Beobachtung, dass bestimmte Yogaübungen einen stabilisierenden und regulierenden Effekt bei komplex traumatisierten Menschen haben. Diesen konnte sie in ihrer jahrzehntelangen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen immer wieder beobachten, etwa im Rahmen der stationären Heimerziehung, in ihrer Einzelarbeit oder im Rahmen der Seminare für traumasensibles Yoga.

Traumatische Erfahrungen und die Polyvagaltheorie

Neure und neuste Ergebnisse aus der neurowissenschaftlichen Forschung, insbesondere die Studien zur Polyvagaltheorie, lieferten schließlich einen Schlüssel zum Verständnis dieses Effekts. In der Praxis lässt sich immer wieder beobachten, dass Menschen mit traumatischen Erfahrungen große Schwierigkeiten haben, sich selbst zu spüren. Sie berichten, dass sie sich fremd im eigenen Leib fühlen und innere Zustände erleben, die sie hilflos machen und ein Gefühl der Ohnmacht hervorrufen. Dieses Phänomen tritt auf, wenn Schutz- und Abwehrreaktionen, die in der Vergangenheit das Überleben gesichert haben, in der Gegenwart weiter bestehen und der Körper sozusagen verlernt hat, sich selbst zu regulieren. Das Nervensystem scannt dann die Umwelt permanent auf potenzielle Gefahren und versetzt den Körper häufig in einen Zustand der Dauererregung. Die daraus resultierenden Reaktionen sind auch auf körperlicher Ebene stark spürbar und für die Betroffenen häufig sehr belastend. Die Folge ist oft ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit.

Hinter derartigen Reaktionen stehen Mechanismen, die in den evolutionär ältesten Strukturen unseres Gehirns angelegt sind. Seit Urzeiten unterscheidet das Autonome Nervensystem im Erleben blitzschnell, ob es sich in einem bestimmten Moment um eine sichere, eine gefährliche oder eine lebensbedrohliche Situation handelt. Das löst unmittelbare Reaktionen aus. Diese reichen von tiefer Entspannung und dem Gefühl der Verbundenheit über Kampf- und Fluchtverhalten bis hin zu Dekompensation, Hilflosigkeit und Erstarrung. Verbunden damit sind physische Symptome wie Herzrasen, Druck im Kopf und Schweißausbrüche oder auch ein plötzliches Gefühl der Schwäche oder Lähmung. Wie aus dem Nichts tauchen zudem mächtige Emotionen auf, etwa Wut, Ärger, Ekel, Abscheu oder Verzweiflung.

Befasst man sich näher mit den Vorgängen, die dabei im Autonomen Nervensystem ablaufen, erweist sich die Polyvagaltheorie von Stephen Porges als höchst hilfreich. Porges postuliert insgesamt drei mögliche Grundzustände des Nervensystems und vergleicht diese mit den drei Ampelphasen:

Grün: Sicherheit, Geborgenheit in der Welt, entspannter Gesichtsausdruck, Augenkontakt, synchron und wechselseitig in Resonanz mit einem anderen Menschen und verbunden mit sich selbst und eigenen Gefühlen (ventraler Vagus)

Gelb: Es droht Gefahr, starke Mobilisation des Sympathikus, Kampf oder Flucht

Rot: Lebensbedrohung, Totstellreflex, Erstarrung (dorsaler Vagus)

Polyvagaltheorie konkret: Fragebogen zu Spürmarkern und autonomen Zuständen

Auf der Basis dieser Erkenntnisse sowie den Erfahrungen aus der eigenen Arbeit entstand schließlich ein Fragebogen. Dieser orientiert sich ebenfalls an den drei von Porges beschriebenen Zuständen und ist folgendermaßen strukturiert: In drei senkrechten Spalten sind untereinander die drei oben genannten Zustände des ANS aufgeführt. In zwei waagerechten Spalten werden dazu jeweils folgende Spürmarker abgefragt:

  1. Spalte: Hier finden sich zu den drei Zuständen des ANS sogenannte vorgegebene Spürmarker, die entsprechend markiert werden können, wenn Betroffene diese Symptome selbst haben.
  2. Spalte: Hier können weitere, persönliche Spürmarker eingetragen werden, die in der zweiten Spalte gefehlt haben.
  3. Spalte: Hier wird ermittelt, welche Aspekte des Yoga/der Meditation aus der eigenen Praxis besonders hilfreich sind.

Die erste qualitative wie quantitative Auswertung erbrachte eine Reihe grundlegender Erkenntnisse. Besonders bemerkenswert ist: Trotz der enormen Unterschiede hinsichtlich der zugrundeliegenden traumatischen Erfahrung ergeben sich starke Parallelen bei den resultierenden Symptomen. So zeigen sich bei allen drei Zuständen klare Clusterbildungen für einzelne Symptome:

 

Etwas differenzierter wird das Bild, wenn man die nachfolgende Spalte des Fragebogens, also das Freitextfeld zur Ergänzung eigener Kategorien, betrachtet. Zum einen ist auch hier eine gewisse Clusterbildung zu beobachten und es werden verstärkt Symptomen gelistet, die unter die Kategorien „Physische Reaktionen“ oder „Kognition“ fallen. Gleichzeitig ist es jedoch auch so, dass die gleichen Symptome von den Antwortenden unterschiedlichen Bereichen zugeordnet werden, beispielsweise starke muskuläre Verspannungen und Schmerzen sowohl für dorsale als auch für sympathische Zustände berichtet werden. Darüber hinaus sticht hervor, dass die Gesamtzahl der angeführten Symptome für die als unangenehm erlebten Zustände des ANS (rot, gelb) weitaus höher ist als die im ventralen Bereich erlebten Empfindungen und Emotionen.

Polyvagaltheorie in der Praxis – konkrete Umsetzung

Was können wir daraus für unsere eigene Yogapraxis und/oder unsere Arbeit als Lehrer:innen lernen? Zunächst einmal zeigt sich, wie hilfreich es ist, sich mit den unterschiedlichen Zuständen des eigenen Nervensystems zu befassen und diese benennen zu können. Ein nächster Schritt besteht darin zu erkennen, welche Maßnahmen mir in einer bestimmten Situation (häufig) gut tun und diese gezielt zu kultivieren. Dies gilt sowohl im Hinblick auf Aktivitäten, die dorsale bzw. sympathikone Zustände regulieren als auch für Maßnahmen, die ventrale Zustände kultivieren und deutlich(er) ins Bewusstsein bringen. Regelmäßig angewendet trägt diese wiederholte Erfahrung der Selbstregulierung dazu bei, unser Nervensystem aus dem beschriebenen Zustand der Dauererregung oder Erstarrung herauszuführen, die natürliche Regulationsfähigkeit wieder herzustellen und uns somit buchstäblich zurück in die Balance zu bringen.

Sabine Nunius

Dr. Sabine Nunius ist Personal Trainerin, Yogalehrerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Trauma-Yogatherapeutin (TSY). Gleichzeitig ist sie als Autorin, Texterin und Übersetzerin tätig. Mit der Gründung ihres eigenen Unternehmens SaNu Health gelang die Verbindung beider Bereiche. Hier bietet sie insbesondere strategische Kommunikation und Konzeption für den Healthcare-Sektor.

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